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Musse
Theo Zichel30.9.2022

Muße

Dürfen wir uns Zeit nehmen, um "nichts" zu tun?

Liebe Leserinnen und Leser,

unser persönliches Herzensthema ist dem etwas eingestaubten Begriff der Muße zur Renaissance zu verhelfen. Wir sind fest davon überzeugt, dass uns mehr Gelegenheit zum Erleben von Muße als Gesellschaft sehr gut tun würde.

Muße war ursprünglich ein sehr lebensdienliches Konzept. Zu den Hochzeiten der alten Griechen war es sogar der Sinn der Arbeit. Aristoteles sagte: 

„Wir arbeiten, um Muße zu haben“.

 

In diesem Blogbeitrag möchten wir gemeinsam mit Ihnen
das faszinierende Thema der Muße erkunden:
Dürfen wir uns tatsächlich Zeit nehmen, um nichts zu tun? 


Ursprünglich bedeutete Muße so viel wie Gelegenheit und Möglichkeit, aber auch Ruhe, Studium, Schule bis hin zu Verzögerung und Langsamkeit. Die Muße war somit auch immer ein Fundament für Innovation, Fortschritt, Wissenschaft und Forschung. Sie war dementsprechend über lange Zeit ein wichtiges akademisches Gut.

Heute wird Muße eher als Zeit angesehen, die zur freien Verfügung vorhanden ist. In anderen Worten als Freizeit, welche der Erwerbsarbeit gegenübergestellt wird.

Das ist aus unserer Sicht eine unzulängliche Definition, denn Muße ist im ursprünglichen Verständnis ein Bestandteil einer besonderen Form der Lebensführung. An der Universität Freiburg wurde in den letzten Jahren zu Muße geforscht. Die Ergebnisse zeigen auf, dass Arbeit nicht unbedingt das Gegenteil von Muße sein muss. Denkbar ist auch eine Form der Arbeit, die Muße sogar erst ermöglicht. Der deutsche Philosoph Günther Figal hat gesagt:

 

„Es geht darum, die Tradition der Muße aufzugreifen, neu zu entwickeln und daraus ein modernes Verständnis menschlichen Lebens zu erarbeiten“

 

Muße sei demnach eine Rückbesinnung auf eine besondere Lebensform des Gelingens.

Lore Hühn war Teil des Forschungsteams der Universität Freiburg. Sie beobachtet, dass unser Wirtschaftssystem an Grenzen stößt, daher ist es gerade jetzt besonders wichtig, vorherrschende Leitbilder zu hinterfragen. Das Konzept der Muße ist im Grunde die Antwort auf das ursprüngliche Fortschrittversprechen. Fortschritt und Wachstum sollten zu mehr Lebensqualität und Freizeit für alle führen, jedenfalls in der Theorie. Jedoch sei paradoxerweise genau das Gegenteil eingetreten. Mehr Fortschritt führt leider nicht äquivalent zu mehr Lebensqualität für alle.

Arbeit galt über viele Jahre als Fetisch des Kapitalismus sowie Sozialismus und wurde lange Zeit nicht hinterfragt. „Arbeit um der Arbeit willen?” Ist das heute noch eine dienliche und zielführende Haltung?

Das sollte doch ein überholtes Konzept sein, würde man meinen. Arbeit soll grundsätzlich Mehrwert schaffen, Gutes bewirken und einen sinnvollen Nutzen zum Gemeinwohl stiften. Ist es nicht so? Da ließe sich direkt die Frage anschließen, welche Jobs denn nun vielleicht auch einfach überflüssig sind und nicht auf Mehrwert und Nutzen einzahlen. Der amerikanische Kulturwissenschaftler David Graeber stellte vor einiger Zeit die These auf, dass bis zu 37 Prozent aller Jobs überflüssig seien.

Das mag provokant wirken und den ein oder anderen in eine Verteidigungshaltung bringen. Mein Job ist doch nicht überflüssig! Sollten wir nicht lernen, Arbeit etwas nüchterner zu betrachten? In unserer westlichen Kultur definieren wir unsere Identität sehr stark über unsere berufliche Tätigkeit. Verlieren wir unseren Job, so verlieren wir auch einen Teil unserer Identität. Zielbilder von weniger Arbeit durch Automatisierung und künstliche Intelligenz, welche dem Menschen viele lästige Routinetätigkeiten ersparen und Zeit für kreatives Schaffen oder andere Tätigkeiten ermöglichen, werden einerseits herbeigesehnt und andererseits verständlicherweise gefürchtet. Wie sollen wir dann Geld verdienen? Wovon Leben wir dann? Dabei wird schlicht vergessen, dass wir von Ressourcen leben, z.B. von Energie, Nahrungsmitteln und Wohnraum. Geld ist lediglich ein Tauschmittel, das im Kontext von zunehmendem Fortschritt auch selbst einem Wandel unterliegt. Ressourcen sind die wahren Hardfacts mit denen wir es hier auf der Erde zu tun haben. Alles andere sind Spielregeln oder anders formuliert Systeme, die sich der Mensch erschaffen hat und nun für naturgegeben hält, aber zu jeder Zeit verändern könnte, sollten sie sich als nicht mehr dienlich erweisen.

„Müßiggang ist aller Laster Anfang“ hält sich bis heute als hartnäckiger Glaubenssatz. Jeder von Ihnen kennt diese Redewendung. Wir haben Mußezeit also in weiten Teilen aus unserem Leben verbannt und als reines Faul-Sein diskreditiert. Diese historische Entwicklung lässt sich auf den Protestantismus zurückführen. Besonders Calvin und Luther etablierten eine Arbeitspflicht, denn nach ihrem Verständnis war Arbeit die Fortsetzung von Gottes Schöpfungswerk und dem Gebet gleichgestellt. „Ora et labora” bedeutet übersetzt „bete und arbeite“. Arbeit wurde ideologisch zur Tugend verklärt. Foucault (1977) hat beschrieben, wie es Jahrhunderte gedauert hat, bis die Menschen für ein lebenslängliches, ununterbrochenes Arbeiten diszipliniert waren. Es mussten Disziplinaranstalten in Form von Zucht- und Arbeitshäusern eingerichtet werden. Dort wurden allerlei Menschen interniert, die nicht mehr zu „normaler Arbeit” taugten, und sie dienten als Abschreckung für die Öffentlichkeit, damit diese gegen den Arbeitszwang nicht rebellierten. Der aufkommende Kapitalismus vermählte schließlich die protestantische Arbeitsaskese mit der Pflicht zur Arbeit im Geiste des Wohlstandes. Das Fortschritts- und Aufstiegsversprechen war geboren und die Arbeit subsumierte alsbald jegliche Tätigkeiten.

Hier laufen wir als Gesellschaft seit geraumer Zeit in eine Sackgasse. Mehr Muße wird so lange nicht erstrebenswert sein, wie wir unsere Identität an Arbeit, Beruf und Leistung knüpfen. Das Spiel nach den alten Regeln weiterspielen wollen und auf ein anderes Ergebnis zu hoffen, erscheint naiv. Wir verwehren uns die Früchte des Fortschritts und kommen aus dem Hamsterrad des „Höher, schneller, weiter“ nicht mehr raus, weil unser Identitätsverständnis damit verwoben ist. „Leistung muss sich auszahlen“. Ja, aber wofür denn etwas leisten? Gibt es vielleicht auch hier überflüssige Leistung, die nicht besser von etwas mehr Muße abgelöst werden sollte?

Die unabwendbare fortschreitende Digitalisierung, Automatisierung und Ökologisierung verhilft nun jedoch dem Konzept der Muße wieder zu mehr gesellschaftlicher Relevanz bzw. macht uns die Wachstumsversprechen erneut bewusst. Diese werden sich jedoch nur erfüllen, wenn wir auch eine Identität entwickeln können, die sich nicht ausschließlich durch unsere Arbeitsrolle speist.

In unserer schnelllebigen Aufmerksamkeitsökonomie (Jenny Odell) brauchen wir nun zunehmend wieder ausgiebige Mußezeiten. Dies ermöglicht uns erst, die rasanten Entwicklungen in der Wirtschafts(-welt) zu verarbeiten und kreative Lösungen für anstehende Veränderungen zu entwickeln.


Kreativität lässt sich nur schwer erzwingen. Haben Sie das schon einmal versucht? Unmöglich! Die besten Ideen finden einen oft in unerwarteten Momenten. Es lassen sich jedoch gute Voraussetzungen für kreative Impulse und Einfälle herstellen. Muße kann hier einen wichtigen Beitrag leisten, nicht umsonst wurde sie in der Wissenschaft über lange Zeit hochgehalten. Zudem ist „Höher, schneller, weiter“ nicht mehr unbedingt besser, so die These der Postmoderne. Eine Ökonomie braucht es logischerweise auch weiterhin, aber ist das dann zwangsläufig noch eine, die ausschließlich auf Wachstum, BIP und Produktion setzt? Unbegrenztes Wachstum gibt es in der Natur nur in der Form von Krebszellen, daher sollten wir diesen Ansatz vermutlich auch in entfremdeten Kontexten nicht weiterverfolgen. Es lässt sich jedoch auch ein qualitatives Wachstum denken, z.B. in Form von Lebensqualität, persönlicher Entwicklung und Bildung. Immaterielles Wachstum, wenn man so will. Dieses kann grundsätzlich tatsächlich unbegrenzt stattfinden, ohne dass es Ressourcen verbraucht. Gleiches gilt mit Einschränkungen für regenerative Produktionsweisen und die Kreislaufökonomie.

Ganz grundsätzlich dürfen wir uns also fragen, wofür wir heutzutage arbeiten und wirtschaften, wenn nicht mehr dafür, um „Muße zu haben”? Wo wollen wir denn hin mit der ganzen Produktion, dem Wachstum und dem Fortschritt? Sind die ganzen Nebenwirkungen dieser weitgehend sinnentleerten Leitbilder reine Kollateralschäden, die wir billigend in Kauf nehmen?

Mußezeit als Messkriterium einer gelingenden Wirtschafts- und Lebenspraxis kann uns hier als eine positive gesellschaftliche Vision dienen, die wieder Lust auf Handeln weckt und sogar eine bessere Zukunft in Aussicht stellt. Im Gegensatz zu den dystopischen Geschichten und Szenarien, die wir uns tagtäglich aufgeregt erzählen und in den Medien verfolgen.

Die Suche nach Mußeräumen bzw. „Entschleunigungsoasen” (Hartmut Rosa) ist stärker denn je, denn sie fehlen schlicht in unserem modernen Leben. Eine zweckfreie Zeitgestaltung findet nur selten statt.

Mehr Muße in unserer Kultur zu ermöglichen, könnte somit eine neue Selbstwirksamkeit, Handlungsfähigkeit, Gelassenheit, Lust auf Bildung sowie politische Mündigkeit hervorbringen und unsere Demokratie stärken. Demokratie als Volksherrschaft erfordert ein politisch aktives Volk. Den Griechen war es sehr wichtig, dass sie Zeit hatten, um in der Polis, dem griechischen Staatsverband, der sich als Bürgergemeinde verstand, aktiv mitzuwirken.

Nachdem sie diesen Artikel nun gelesen haben, nehmen sie sich 15-30 Minuten Zeit für eine Reflexion.

Folgende Fragen können Ihnen als Anregung dienen:

  • Welche Aspekte verbinde ich mit Muße?

  • Wo lebe ich heute schon in Muße und wo noch nicht?

  • Wie kann ich mehr Muße für mich schaffen?

  • Wie kann mir das Konzept der Muße helfen, ein erfüllteres berufliches sowie privates Leben zu führen?

  • Wie kann meiner Organisation das Ermöglichen von Mußeräumen helfen, um aktuelle Herausforderungen zu lösen?

  • Welche Fragen habe ich sonst noch zur Muße?

Ihre Fragen und Antworten können Sie mit in ihren Arbeits- und Lebensalltag nehmen. Sprechen Sie doch einmal mit Ihren Kollegen über das Thema oder regen Sie ein Gespräch über Muße in Ihrer Familie und im Freundeskreis an. Es werden sich sicherlich spannende Gespräche daraus ergeben.

Zur weiteren Vertiefung im Thema können wir Ihnen das kurzweilige Essential „Arbeit und Muße: Ein Plädoyer für den Abschied vom Arbeitskult“ empfehlen.


Herzlichen Dank für Ihr Interesse am Thema!
Theo Zichel mit Prof. Dr. Daniel Keller für Keller Partner

 

 

Titelbild: Foto von Johannes Krupinski auf Unsplash

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