Ein Plädoyer für lernförderliche Strukturen, Haltung und Gewohnheiten
Liebe Leserinnen und Leser,
Lernen ist kein Selbstläufer. Auch wenn wir vom „lebenslangem Lernen“ sprechen, bleibt dieses oft ein Lippenbekenntnis. Nicht aus bösem Willen, sondern weil es im Alltag schlicht an Raum, Energie oder Orientierung fehlt. Die Anforderungen im Tagesgeschäft sind hoch, die Zeit knapp, der Fokus liegt auf dem Operativen. Doch genau deshalb ist kontinuierliches Lernen in einer Welt, die von Komplexität, Geschwindigkeit und Wandel geprägt ist, wichtiger denn je.
„Organisationen, die das verstehen, machen Lernen nicht zur Ausnahme, sondern zur Struktur. Und sie erkennen: Führung spielt dabei eine Schlüsselrolle.“ |
Lernen lässt sich nicht anordnen, jedoch ermöglichen
Lernen geschieht nicht auf Knopfdruck. Es braucht weder Zwang noch Kontrolle, sondern Bedingungen, unter denen Lernen möglich wird. Gute Führung sorgt dafür, dass Lernen nicht dem Zufall überlassen bleibt. Sie schafft Freiräume, gibt Impulse, eröffnet Gelegenheiten und lebt selbst vor, was Weiterentwicklung bedeutet.
Studien zeigen: Führungskräfte prägen die Lernkultur ihrer Teams durch ihr Verhalten, ihre Prioritätensetzung, ihren Umgang mit Fehlern weit stärker, als ihnen oft bewusst ist. Sie entscheiden mit, ob Menschen sich trauen, Fragen zu stellen, Neues zu erproben oder auch mal zu scheitern. Wo Offenheit vorgelebt wird, kann auch Lernen wachsen.
Im Zentrum dessen steht eine Haltung, die tiefgreifender wirkt als jedes Weiterbildungsprogramm: Die Überzeugung, dass Fähigkeiten entwickelbar sind. Die Psychologin Carol Dweck nennt das „Growth Mindset“ – im Gegensatz zum „Fixed Mindset“, das davon ausgeht, dass man gewisse Dinge eben kann oder nicht. Ein Growth Mindset verändert die Perspektive auf Herausforderungen und Rückschläge. Wer daran glaubt, dass Entwicklung möglich ist, wird neugieriger, mutiger, beharrlicher. Fehler werden zu Lerngelegenheiten, Zweifel zum Ausgangspunkt für neue Wege. Führungskräfte, die diese Haltung verinnerlichen und vorleben, schaffen ein Umfeld, in dem Lernen normal, ja sogar erwünscht, ist. Ich persönlich teile regelmäßig Impulse, Tools oder Erkenntnisse mit meinem Team. Nicht, weil ich alles weiß, sondern weil ich selbst lernen will. Diese Offenheit zeigt: Lernen ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Professionalität. Und genau das wird im Alltag wahrgenommen und übernommen.
Lesen Sie dazu mehr im Blogbeitrag „Jeden Tag 1% besser“ von meinem Kollegen Alexander Noß.
Neben der Haltung braucht Lernen auch Struktur. Ohne Klarheit, Rahmung und Verbindlichkeit verpuffen selbst gute Impulse. Denn Lernen ist mehr als Inspiration. Es ist Arbeit, Wiederholung, Dranbleiben. Ein Modell, das ich in diesem Zusammenhang besonders hilfreich finde, stammt von Gianpiero Petriglieri. Es beschreibt drei Rollen, die Führung je nach Situation und Kontext im Lernprozess einnehmen kann:
- Der „Connector“ (Verbinder) sorgt dafür, dass individuelle Entwicklung, Zusammenarbeit und Strategie miteinander verbunden werden. Diese Rolle wird besonders in vernetzten, agilen Kontexten wichtig, also überall dort, wo Wissen geteilt und gemeinsam weiterentwickelt wird.
- Der „Challenger“ (Herausforderer) fordert zur Entfaltung auf, ermutigt, eigene Lernwege zu finden, auch jenseits des unmittelbaren Aufgabenbereichs. Hier steht nicht die Organisation, sondern das individuelle Potenzial im Zentrum.
- Der „Custodian“ (Bewahrer) schafft ein strategisches Fundament, definiert Lernziele und stellt Ressourcen bereit. Diese Rolle ist essenziell, wenn neue Kompetenzen aufgebaut oder strategische Veränderungen gestaltet werden sollen.
Was dieses Modell so wertvoll macht: Es ist kein Dogma, sondern eine Einladung zum situativen Führen. Denn nicht jede Phase verlangt die gleiche Rolle, aber jede gute Führungskraft sollte alle drei beherrschen.
Tiefe entsteht durch Wiederholung, nicht durch Vielfalt
Viele Organisationen investieren inzwischen in eine beeindruckende Bandbreite an Lernformaten: Learning-Plattformen, interne Akademien, Trainings aller Art. Das zeigt, dass Lernen auf der Agenda steht und das ist gut so. Doch all das bleibt oft Stückwerk, wenn die passende Kultur fehlt.
Denn Lernen ist kein reines Konsumieren. Es braucht mehr als Inhalte auf Abruf. Es braucht Wiederholung, Fokus und manchmal auch das bewusste Verlangsamen. Der Autor Josh Waitzkin bringt es auf den Punkt: „Make smaller circles“: also reinzoomen, verfeinern, vertiefen. Nicht immer mehr, sondern gezielter. Nicht breiter, sondern präziser.
Und genau hier kommt die Kultur ins Spiel. Denn ob Lernen wirklich im Alltag ankommt, entscheidet sich nicht an der Anzahl der Angebote, sondern daran, wie Teams miteinander arbeiten. Ob Raum für Reflexion bleibt. Ob Fehler als Lernchance gelten. Ob eine Frage gestellt werden darf, ohne dass es als Schwäche ausgelegt wird. Oder ob sich jemand traut zu sagen: „Das weiß ich (noch) nicht.“
Diese Kultur entsteht nicht durch Zufall und auch nicht durch PowerPoint-Folien. Sie wächst dort, wo Führung Haltung zeigt. Wo das Teilen von Erkenntnissen normal ist. Wo Lernimpulse nicht nur gesetzt, sondern auch begleitet werden. Und wo sich Führungskräfte nicht als Wissensvermittler, sondern als Mitlernende verstehen.
Führung, die Lernen möglich macht, braucht kein perfektes Konzept. Sondern Klarheit, Routinen und den Mut, sich selbst immer wieder mit auf den Weg zu machen.
Ihr Daniel Keller
Bildquelle: Foto von Freepik
