Warum sichtbare Wertschätzung Teams stärkt
Liebe Leserinnen und Leser,
Führung heute ist nicht mehr das reine Steuern von Aufgaben oder das Treffen von Entscheidungen aus dem Elfenbeinturm. Mitarbeitende erwarten Orientierung, aber sie wollen vor allem mit ihren Ideen, ihren Stärken und auch mit ihren Herausforderungen wahrgenommen werden. Moderne Teams bestehen oft aus qualifizierten Fachkräften, die eigenständig arbeiten, hybride Arbeitsmodelle nutzen und sich nicht länger mit starren Hierarchien zufriedengeben. Wer wirksam führen will, muss verstehen, dass Motivation, Engagement und Leistung nicht mehr automatisch aus Anweisungen entstehen, sondern aus dem Gefühl, gesehen und verstanden zu werden.
Führung wird heute nicht mehr nur durch Kontrolle und Lenkung bestimmt. Vielmehr liegt der Fokus darauf, Menschen auf ihrem Weg zu begleiten und ihre Potenziale zu erkennen und zu fördern. Beschäftigte möchten sich engagieren, Verantwortung tragen und erleben, dass ihre Beiträge wertgeschätzt werden. Derjenige, der dies ermöglicht, sorgt für ein produktiveres und gleichzeitig resilientes Team.
Noticing: Drei Ebenen der Wahrnehmung
In diesem Kontext gewinnt das Konzept des „Noticing“ besondere Bedeutung. Dust und Mercurio (2025) beschreiben darin, wie Führungskräfte Menschen bewusst auf drei Ebenen wahrnehmen können: Körperliche Präsenz, Emotionale Resonanz und Strategische Aufmerksamkeit.
- Körperliche Präsenz bedeutet, wirklich da zu sein. Wer aktiv zuhört, Ablenkungen minimiert und sich bewusst auf sein Gegenüber konzentriert, vermittelt: „Ich sehe dich“. Dies zeigt sich in gezielten Rückfragen, aufmerksamen Blickkontakten oder kleinen Gesten wie Nicken und bestätigenden Bemerkungen. In hybriden Arbeitsumgebungen, in denen Teams auch remote arbeiten, wird diese Form der Präsenz besonders wichtig, weil nonverbale Signale oft reduziert sind. Wie ein Kind durch das Spiegeln seiner Bezugsperson ein Gefühl für das eigene Selbst entwickelt, gewinnen auch Mitarbeitende an Stärke, wenn sie durch ihre Führungskraft wahrgenommen und bestätigt werden (Winnicott, 1965).
- Emotionale Resonanz beschreibt die Fähigkeit, Empathie zu zeigen und emotionale Signale wahrzunehmen. Es geht darum, die Gefühle und Stimmungen der Mitarbeitenden ernst zu nehmen und einfühlsam darauf zu reagieren. Bion (1961) zeigte in Experiences in Groups, dass Gruppen unbewusste Grundannahmen entwickeln (z. B. Abhängigkeit, Kampf/Flucht). Führungskräfte, die Noticing praktizieren, nehmen solche unausgesprochenen Emotionen wahr und können konstruktiv damit umgehen. Lawrence, Bain & Gould (1996) betonen in diesem Zusammenhang, dass die Organisation ein „emotionaler Container“ ist. Emotionale Resonanz bedeutet hier, dass Führungskräfte auch Ängste und Unsicherheiten halten und deuten können. Wer Empathie ausdrückt, vermittelt: „Ich sehe dich, ich verstehe dich, und deine Situation ist mir wichtig“. Diese Form der Resonanz fördert Vertrauen, psychologische Sicherheit und ein Klima, in dem Mitarbeitende offen kommunizieren und sich aktiv einbringen können.
- Strategische Aufmerksamkeit heißt, Talente, Stärken und Beiträge gezielt zu erkennen. Es geht nicht nur darum, wer gut performt, sondern auch darum, Potenziale zu entdecken, individuelle Stärken zu fördern und Mitarbeitende in Aufgaben einzubinden, die ihrem Können und ihren Interessen entsprechen. Führungskräfte, die strategische Aufmerksamkeit praktizieren, verbinden Anerkennung mit gezielter Förderung und schaffen so nachhaltige Motivation und Leistungsbereitschaft.
Die psychologische Kraft von „Noticing“
Menschen sind zutiefst soziale Wesen. Baumeister und Leary (1995) zeigten, dass das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Anerkennung zu den zentralen psychologischen Grundbedürfnissen gehört. Wer das Gefühl hat, dass seine Arbeit, seine Ideen oder seine Person wahrgenommen werden, erfährt intrinsische Motivation, die über externe Belohnungen hinausgeht.
Darüber hinaus wirkt Wahrnehmung direkt auf die Selbstwirksamkeit. Bandura (1977) prägte den Begriff als „das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, Herausforderungen erfolgreich zu meistern“. Mitarbeitende, die sich gesehen fühlen, übernehmen eher Verantwortung, entwickeln kreative Lösungen und bringen innovative Ideen ein. Grant und Gino (2010) zeigten, dass Wertschätzung und wahrgenommene Bedeutung zu gesteigerter Problemlösefähigkeit und kognitiver Leistung führen.
Nicht zuletzt beeinflusst das Erleben von Wahrnehmung die emotionale Bindung an das Team und Unternehmen. Wer sich gesehen fühlt, bleibt loyaler, trägt zu einem positiven Betriebsklima bei und ist bereit, auch in schwierigen Zeiten Engagement zu zeigen. Gerade in hybriden oder diversen Teams, in denen Zugehörigkeit und Sichtbarkeit nicht automatisch entstehen, ist dies ein entscheidender Erfolgsfaktor.
Von der Theorie in den Alltag: Ein Praxisbeispiel
Thomas leitet ein Team von sechs Mitarbeitenden, von denen einige im Homeoffice arbeiten. In einer Teamsitzung bemerkt er, dass Jonas ungewöhnlich still ist. Statt seine Zurückhaltung zu übergehen, lädt er ihn nach der Sitzung zu einem kurzen 1:1-Gespräch ein. Er schenkt ihm volle Aufmerksamkeit, hört aktiv zu und signalisiert durch Blickkontakt, Gestik und Stimme, dass er seine Gedanken wirklich wahrnimmt. (Das ist körperliche Präsenz.)
Während des Gesprächs erkennt Thomas, dass Jonas verunsichert ist, weil sein Projekt auf unvorhergesehene Hindernisse gestoßen ist. Er reagiert empathisch auf seine Sorgen, zeigt Verständnis und vermittelt: „Ich sehe, wie sehr du dich engagierst und ich verstehe, was gerade los ist.“. (Das ist emotionale Resonanz.)
Schließlich erkennt Thomas, dass Jonas ein besonderes Talent für kreative Lösungsansätze hat, das bisher zu wenig genutzt wurde. Er schlägt vor, dass er in einem kommenden Projekt diese Fähigkeit gezielt einsetzen kann und lobt konkret seine bisherigen Beiträge. (Das ist strategische Aufmerksamkeit.)
Das Ergebnis: Jonas fühlt sich gesehen, verstanden und motiviert, sich weiterhin aktiv einzubringen. Das Team spürt die positive Energie, weil Anerkennung nicht abstrakt bleibt, sondern konkret erfahrbar wird.
Solche kleinen Momente, in denen Führungskräfte bewusst wahrnehmen und Anerkennung zeigen, summieren sich über Wochen und Monate zu einem Klima der Wertschätzung, das Motivation, Engagement und Bindung messbar stärkt.
Fallstricke und Herausforderungen: Worauf es wirklich ankommt
„Noticing“ funktioniert nur, wenn es authentisch und konsequent gelebt wird. Oberflächliches Lob oder pauschale Anerkennung wirken schnell unglaubwürdig. Ebenso kann ungleichmäßige Wahrnehmung Frustration erzeugen, wenn nur bestimmte Mitarbeitende gesehen oder belohnt werden. Wahrnehmung kostet Zeit, und Führungskräfte müssen sie bewusst in ihren Alltag integrieren, um nicht automatisch wieder nur Ergebnisse zu managen.
Die Lösung liegt in der Systematisierung. Regelmäßige persönliche Gespräche, strukturierte Feedbackrunden und die konsequente Würdigung von Beiträgen sorgen dafür, dass „gesehen werden“ zur gelebten Führungsqualität wird, ohne dass der Tagesablauf aus den Fugen gerät.
Führungskräfte, die bewusst wahrnehmen, legen den Grundstein für leistungsstarke, resiliente und engagierte Teams. Wer andere Menschen wirklich sieht, wird selbst als Führungskraft sichtbarer, als jemand, der inspiriert, motiviert und nachhaltige Wirkung erzielt.
Ihr Theo Zichel
Übersicht der Quellen:
- Bandura, A. (1977). Self-efficacy: Toward a unifying theory of behavioral change. Psychological Review, 84(2), 191–215. https://doi.org/10.1037/0033-295X.84.2.191
- Bion, W. R. (1961). Experiences in groups. London: Tavistock.
- Baumeister, R. F., & Leary, M. R. (1995). The need to belong: Desire for interpersonal attachments as a fundamental human motivation. Psychological Bulletin, 117(3), 497–529. https://doi.org/10.1037/0033-2909.117.3.497
- Dust, S., & Mercurio, Z. (2025). Great leaders make people feel noticed. Harvard Business Review. https://hbr.org/2025/05/great-leaders-make-people-feel-noticed
- Grant, A. M., & Gino, F. (2010). A little thanks goes a long way: Explaining why gratitude expressions motivate prosocial behavior. Journal of Personality and Social Psychology, 98(6), 946–955. https://doi.org/10.1037/a0017937
- Deloitte. (2022). Global Human Capital Trends: Leading the social enterprise in a hybrid world. Deloitte Insights. https://www2.deloitte.com/us/en/insights/focus/human-capital-trends.html
- Harvard Business Review. (2020–2025). Leadership & management articles. Harvard Business Review. https://hbr.org/topics/leadership
- Lawrence, W. G., Bain, A., & Gould, L. (1996). The fifth basic assumption. Free Associations, 6(37), 28–55.
- Winnicott, D. W. (1965). The maturational processes and the facilitating environment. London: Hogarth Press.
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